Lange Fassung - Teil 1


In der Kernversion lasen Sie bereits die Kapitel Der Schein von Wissenschaftlichkeit und Enneagramm-Tests. Hier der Kapitel-Überblick für das "darum herum":


Teil 1

Einleitung
James Charles Napier Webb (1946-80)
Gurdjieff, die Wissenschaft und Anderes
P. D. Ouspensky (1878-1947)

Teil 2

Pythagoras (~570 bis ~495 v.Chr.)
Zur Aufforderung erkenne dich (gnòthi sautòn)
Evagrius Pontikus (345-399)
Astrologie und Enneagramm

Teil 3

Oscar Ichazo
Selbsternannte Menschenkenner ?
Dietmar Friedmann
Neurowissenschaft und Enneagramm
Das Enneagramm-Modell ist dogmatisch
"Das" Enneagramm gibt es nicht !

Teil 4

Enneagramm "Reloaded" ?
Der Unterschied spiritueller und wissenschaftlicher Erkenntnis
Wertschätzend-kritischer Schlusskommentar
Persönliche Anmerkungen
Schlusswörter





Teil 1


Einleitung


Wir haben es hier mit einem Modell zu tun, welches ursprünglich als Gurdjieffsches Enneagramm verstanden werden muss. Nach meiner Kenntnis erwähnt Gurdjieff in keiner seiner vier Schriften das Wort enneagram bzw. enneagramm ! Lediglich die Kapitel 39 und 40 in Gurdjieffs Beelzebub beinhalten laut Moore "although not explicitly referring to the enneagram ... the deepest exposition of the laws it encapsulates." (Moore [1987]/ 2004: 9 Anm. 10) Wir müssen die Aufzeichnungen seiner Schüler - wobei Ouspensky hervorzuheben ist - als Grundlage für die Deutung des Gurdjieffschen Enneagramm heran ziehen. In der Regel wird im deutschsprachigen Raum für Gurdjieffs Modell das Wort "Prozessmodell" verwendet. Hinsichtlich der verbreiteten Verwendung des Wortes "Prozessmodell" gibt Klausbernd Vollmar folgenden Hinweis: "Dass Gurdjieff das Prozessmodell gelehrt hat, ist sicherlich falsch - zumindest in der Form, wie wir es heute kennen" (Vollmar in: Zink 2010: 22, Anm. 81) Aufgrund der Quellenlage und wegen des Widerspruchs der Gurdjieff-Deuter wird deutlich, wie schwierig es ist, eine klare und eindeutige Gurdjieffsche Enneagramm-Lehre zu erkennen. Dass diese Schwierigkeit besteht, ist wiederum folgerichtig unter Einbeziehung der Person Gurdjieff.

Bei Fragen nach den Quellen seines Wissens wich Gurdjieff aus (vgl. O2a: 16 ["When I tried to ask him more definitely where he had found what he knew, what the source of his knowledge was, and how far this knowledge went, he did not give me a direct answer."], O2a: 36 ["About schools and where he had found the knowledge he undoubtedly possessed he spoke very little and always superficially. He mentioned Tibetan monasteries, the Chitral, Mount Athos; Sufi schools in Persia, in Bokhara, and eastern Turkestan; he mentioned dervishes of various orders; but all of them in a very indefinite way."])

"Die Semantik des Enneagramms Gurdjieffs ist vieldeutig und in vieler Hinsicht völlig dunkel. Irgendwie ist es zum zentralen Symbol des gesamten Lehrsystems Gurdjieffs geworden und doch hat sich Gurdjieff kaum ausdrücklich zur Bedeutung des Enneagramms geäußert. Seine wenigen expliziten Andeutungen zu diesem Thema sind zudem eher allegorischer Art und müssen als eigenwillig, charismatisch und zum Teil schlicht konfus bezeichnet werden. Von seinen Schülern auf logische Inkonsistenzen aufmerksam gemacht, beschied Grudjieff mit esoterischem Gestus, dass die Bedeutung des Enneagramms eben nicht allen zugänglich sei und dass scheinbare Konstruktionsfehler auf einer tieferen Ebene einen Sinn ergäben, der sich jedoch nur für die Träger besonderer hermeneutischer Begabung erschließe:
»Die Kenntnis des Enneagramms wurde lange Zeit geheimgehalten, und wenn es nun sozusagen allen zugänglich gemacht wird, so nur in einer unvollständigen und theoretischen Form, die niemand ohne Belehrung durch einen Wissenden irgendwie praktisch anwenden kann.«51
[...] hat Gurdjieff offensichtlich nicht viel Wert darauf gelegt, dass seine Schüler das Enneagramm intellektuell nachvollziehen und durchdringen konnten. Im Kreise der Schülerschaft Gurdjieffs dürfte der geheimnisvolle Charakter des Enneagramms das Interesse daran noch gesteigert haben, und schon Ouspensky ließ es keine Ruhe, dass die Erläuterung des Enneagramms »sichtlich ... nicht beendet« war. (Bartels 2005: 20f mit Bezug auf Quspensky in Anmerkung 51)

Bartels bringt hier sehr gut den psychologischen Trick der Geheimniskrämerei auf den Punkt.

Gurdjieff vermochte es, Menschen glauben zu machen, er würde etwas ganz Besonderes verkünden und ihnen einen Weg zu ihrem wahren Wesenskern aufzeigen.

Mehr zur Person Gurdjieff finden Sie im Kapitel "Gurdjieff, die Wissenschaft und Anderes". Das Folgekapitel seines wichtigsten intellektuellen Schülers Ouspensky wirft ein wichtiges ergänzendes Licht auf den Menschen Gurdjieff. Es wäre angemessen, auch Thomas von Hartmann und Jeanne de Salzmann ein eigenes Kapitel zu widmen, weil die eigentliche Schaffenskraft Gurdjieffs m. E. nicht im Intellektuellen liegt, sondern in der Musik (Komponieren) und im Tanz (Choreographieren). Da es auf dieser Webseite um die Kritik am psychologisch-typologischen Enneagramm-Modell geht, habe ich auf jene Kapitel verzichtet. Für das Gurdjieffsche Enneagramm ist ein ergänzendes Kapitel zu John Godolphin Bennett angemessen, doch habe ich bereits auf der Webseite zur Symbolherkunft aus einer wichtigen Bennett-Quelle zitiert und bestimmte Seiten/Kapitel darin als "leserische Pflichtübung" benannt. Schließlich hat Bennett selber das Quspensky-Buch Auf der Suche nach dem Wunderbaren als "die maßgebende Zusammenfassung der Gurdjieffschen Ideen" bezeichnet (Bennett [1973]/ 1976: 5f). Am Ende des Ouspensky-Kapitels werde ich Bennett hinsichtlich einer Tragik in der Beziehung zwischen Ouspensky und Gurdjieff und hinsichtlich seiner eigenen Beziehung zu Gurdjieff zitieren.

Die folgenden drei Kapitel verweilen bei der Gurdjieffschen Linie.
Mit den Kapiteln "Astrologie und Enneagramm" sowie "Oscar Ichazo"
wird der Übergang zur psychologischen Enneagramm-Typologie vollzogen.



James Charles Napier Webb (1946-80)


Nachdem Bennett 1974 in Gurdjieffscher Tradition das Buch The Enneagram und eine überarbeitete Fassung 1983 mit dem Titel Enneagram Studies veröffentlicht hatte, markierte 1984 das Buch The Enneagram. A Journey of Self Discovery (1992: Das wahre Selbst entdecken. Eine Einführung in das Enneagramm) der Autorengemeinschaft Beesing, M./ Nogosek, R./ O'Leary, P. "den Beginn der popularisierenden Enneagramm-Rezeption." (Bartels 2005: 48)

Doch bevor dieses erste popularisierende Enneagramm-Buch erschien, hatte der schottische Ideenhistoriker und Kulturwissenschaftler James Webb drei dicke Bücher veröffentlicht, von denen das letzte sich 1980 ausführlich mit Gurdjieff und Ouspensky befasste (Erstes Buch 1971: The Flight from Reason. The age of the Irrational I, geringfügig verändert 1974 mit dem Titel The Occult Underground [2009: Die Flucht vor der Vernunft. Politik, Kultur und Okkultismus im 19. Jahrhundert] zweites Buch 1976 The Occult Establishment. The age of the Irrational II [2008: Das Zeitalter des Irrationalen. Politik, Kultur und Okkultismus im 20. Jahrhundert] und drittens 1980 The Harmonious Circle. The Lives and Work of G. I. Gurdjieff, P. D. Ouspensky and Their Followers. With 26 Illustrations [eine dt. Übersetzung ist mir nicht bekannt]. "Webb sucht immer die Verifikation oder zumindest Dokumentation seiner Thesen in der Lebensgeschichte der konkreten Menschen, die für die jeweiligen irrationalen und okkulten Ideen eingetreten sind. [...] ... nur wenige haben je auf einer so breiten Quellenbasis gearbeitet wie der kluge Schotte." (Frenschkowski in: Webb [1976]/ 2008: 11)

"Sowohl als Schüler wie auch als Student ist Webb brilliant und gewinnt eine Reihe von Preisen." (Frenschkowski in: Webb [1976]/ 2008: 13) Webb schrieb bereits mit 25 Jahren sein erstes Buch. Dieses und die folgenden Webb-Bücher stellen gerade angesichts des erst im Entstehen begriffenen Internet eine große Rechercheleistung des detailversessenen Forschers dar. "... ist ein nicht ganz unwichtiger Beitrag die Etablierung der Erforschung der »westlichen Esoterik« (...) als einer eigenen Disziplin. Ein ehemals aus praktisch jeder seriösen Forschung ausgegrenzter Bereich wird hier zum Gegenstand neuer Untersuchungen, der seine Existenz nicht mehr legitimieren muss. Okkultismus ist ein Teilgebiet dieses Feldes. Die Bücher von James Webb hatten - was sich vor allem heute im Rückblick sagen lässt - eine wegweisende Funktion in dieser Integration der Erforschung des Okkulten und Esoterischen in den Raum der Kulturwissenschaften. [...] Zahlreiche kulturelle und soziale Zusammenhänge zur Geschichte des Okkulten sind vor Webb noch niemals so klar ausgedrückt worden. [...] Webb ist Rationalist: aber nicht mit der behäbigen und stolzen Überlegenheitsattitüde dessen, der immer schon alles besser wusste, sondern mit der Trauer des suchenden und ernsthaften Gelehrten, der Respekt auch gegenüber denen bewahrt, deren Ideologien er nicht teilen kann." (Frenschkowski in: Webb [1974]/ 2009: 12, 13) In seinem dritten Werk zeichnet Webb "aus vielen vorher oft völlig unbekannten Quellen ein detailliertes Bild der russischen spirituellen Lehrer, ... . Nicht zuletzt zur Geschichte ... des »Enneagramms« (dessen Grundideen auf Gurdjieff zurückgehen) hat Webb wiederum Pionierarbeit geleistet." (ebd.: 18) Webb war eng befreundet mit Joyce Collin-Smith, einer Schwägerin von Rodney Collin. Sie lebte in der esoterischen und mystischen Welt, über die Webb forschte und schrieb. "Seit den 1930er-Jahren war sie als Sucherin mit vielen spirituellen Bewegungen intensiv verbunden gewesen (von den Anthroposophen über Moral Re-Armament und dem indonesischen Messias Pak Subuh bis zu Maharishi Mahesh Yogi, zu dessen engster Gefolgschaft sie jahrelang gehörte), hatte dabei aber ihren unabhängigen Blick nie verloren." (ebd.: 19)

Ich hatte kein Enneagramm-Buch in den Händen, das ein so umfangreiches Quellen-verzeichnis aufwies, wie The Harmonious Circle von James Webb.




Gurdjieff (1866?-1949, Link 2),
die Wissenschaft und Anderes


"Als Gurdjieff ... in Paris starb, war sein Name dem großen Publikum noch unbekannt, sein Werk unveröffentlicht und sein Platz in der Geschichte des Denkens unmöglich zu definieren." (Anm. des Hg. von den Begegnungen [1960]/ 31984: 9) Der Gurdjieff-Biograph James Moore sagt in seiner Anmerkung "9. Gurdjieff and Science": "Gurdjieff was not a scientist but a spiritual master. Although fearless of offending modern science, his cast of mind was far from unscientific. Indeed in the psychological domain, his empiricism, his insistence on experimentation and verification by repetition, mirror (more than the psychoanalytic corpus) the hypothetico-deductive methodology of Galileo, Boyle and Lavoisier." (Moore 1991: 345)

Gurdjieff nannte seine "Expeditionen im tiefsten Asien, in Afrika, Australien und den angrenzenden Inseln" (G2: 284) "wissenschaftlich": "Als ich etwas später die erwähnte wissenschaftliche Expedition unternahm, ... ." (G2: 328) Gurdjieff meinte, einen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten "in that branch of genuine science entitled »the laws of association of human mentation,« which has come down from very ancient times and is known to only a few contemporary people, that the »sensing of the flow of time is directly proportional to the quality and quantity of the flow of thoughts« ..." (G1: 1185) In seiner Gruppe der seekers after truth (Wahrheitssucher) befanden sich angeblich auch Wissenschaftler: "Es gab alle möglichen Spezialisten unter uns. Jeder arbeitete und studierte nach den Methoden seiner speziellen Wissenschaft. Wenn wir uns nachher trafen, teilten wir uns die Resultate mit." (Anm. des Hg. von den Begegnungen [1960]/ 31984: 10; als Quelle für das Zitat gibt der Hg. Auf der Suche nach dem Wunderbaren von Ouspensky (1966) an)

Gurdjieff sprach oft davon, "Experimente" gemacht zu haben. Ihm war wichtig, nicht einfach zu glauben, sondern ein Verstehen durch eigene Erfahrung zu erlangen (vgl. Ouspenskys Erzählungen zu den ersten Begegnungen mit Gurdjieff). Ouspensky sagte zu Gurdjieff: "»... no one would have the right to speak of or describe any experiment unless he was able to carry it out himself. Until he was able to repeat the experiment himself he had to keep silent.« »There could be no better formulation,« said G., ..." (O2a: 14) - und siehe auch bei Bennett: "... ich erinnere mich daran, daß Gurdjieff gesagt hatte, daß wir nichts glauben dürften, was wir nicht selbst überprüft hätten." (Bennett (1976), der Quell-Link funktioniert nicht mehr). Entsprechend sagte Gurdjieff über den vierten Weg: "Then the fourth way differs from the other ways in that the principal demand made upon a man is the demand for understanding. A man must do nothing that he does not understand, except as an experiment under the supervision and direction of his teacher. The more a man understands what he is doing, the greater will be the results of his efforts. This is a fundamental principle of the forth way. The results of work are in proportion to the consciousness of the work. No 'faith' is required on the forth way; on the contrary, faith of any kind is opposed to the fourth way. On the fourth way a man must satisfy himself of the truth of what he is told. And until he is satisfied he must do nothing." (Gurdjieff zitiert in O2a: 49)

Gurdjieff hob sein Institut hervor: "... as the Institute-for-the-Harmonious-Development-of-Man experimentally proves and from experiments categorically affirms ..." sowie "... according to my convictions which have been formed thanks to long years of investigations strengthened by numerous quite exceptionally conducted experiments on the results of which are based the »Institute-for-the-Harmonious-Development-of-Man« ..." (G1: 1202, 1231), wobei er sich durch die Wissenschaft bestätigt wähnte: "This experimentally proved categorical affirmation of the Institute-for-the-Harmonious-Development-of-Man, namely, that the ordinary man can do nothing and that everything does itself in him and through him, coincides with what is said of man by contemporary »exact-positive-science.«" (G1: 1203) sowie: "Many experiments have been made, and it has been established with indubitable exactitude, that ..." (G1: 1218) und "Diese Institution beruht auf experimentellen Daten, die lange Jahre hindurch von mir gesammelt und sorgfältig überprüft wurden, ..." (G2: 279)
Gurdjieff hatte also eine wissenschaftliche Denkweise.
Ergänzend sei erwähnt, dass er viele Bücher gelesen hat (G2: 71), so auch zur Neuropathologie (G2: 80, 87) und er schrieb sich "eine umfangreiche Kenntnis der Naturwissenschaften" zu (G2: 100).

Schließlich dachte er in Problemsituationen mit kreativer Logik (G2: 187ff), was er auf die Erziehung seines Vaters zurück führte: "Ich möchte noch hinzufügen, daß ich es zum Teil dieser ersten Erziehung verdanke, wenn ich heute in manchen Ländern als ein Mann gelte, der wirkliche Kompetenz auf zahlreichen Gebieten besitzt. Diese richtige Erziehung entwickelte in mir von Kindesbeinen an Erfindungsgabe, Weitblick und vor allem gesunden Menschenverstand, die mich im Laufe meines Lebens - mit Hilfe absichtlich oder zufällig erworbener Informationen den Kern jeder Wissenschaft erfassen ließen, anstatt mich mit leeren Phrasen vollzustopfen wie meine Zeitgenossen, die Opfer jener ungeheuerlichen Methode des Auswendiglernens wurden." (G2: 281).

Soweit zu dem, was Gurdjieffs Selbstverständnis als Wissenschaftler kennzeichnet. Mindestens so wichtig ist seine Neigung zum Geschichten erzählen. Kathleen Riordan (Speeth) nannte Gurdjieff einen "weise[n] Schalk" (Riordan [1975]/ 1978: 395). Gurdjieff hatte eine hohe Wertschätzung für Mullah Nassr Eddin "or as he is also called, Hodja Nassr Eddin", oder auch "Nasreddin Hoca" (G1: 9). Eine laut Gurdjieff in asiatischen Ländern sehr bekannte Figur, die mit dem amerikanischen Uncle Sam oder dem deutschen Till Eulenspiegel vergleichbar sei (vgl. ebd.). Er nennt Mullah Nassr Eddin "the wisest of the wise" (ebd.) und "incomparable teacher" (G1: 43) sowie "that All-Common Teacher whom I particularly esteem" (G1: 44) und "very wise three-brained being" (G1: 57; vgl. auch G2: 16, 20, 46) Zweimal nennt er in seinem zweiten Buch einen bestimmten Ausspruch des Mullah:
"»Strebe in allen Lebensumständen stets danach, das Nützliche für die anderen mit dem Angenehmen für dich selbst zu verbinden.«" (G2: 303; sinngemäße Formulierung in der Einführung: 46) Moore kommentiert: "Gurdjieff's particular Nassr Eddin is less the anti-hero of amusing, traditional anecdotes than the shrewd innovator of pithy sayings, e.g. »as irritable as a man who has just undergone full treatment by a famous European nerve specialist.«" (Moore 1991: 348)

Was auch immer von Gurdjieffs Lehre zu halten ist. Tatsache ist, dass er mitten im Leben stehende Menschen zu begeistern vermochte - und das so sehr, dass sie ihr bisheriges Leben aufgaben, um mit ihm am Institut in Frankreich zu arbeiten:

"Sobald die Prieuré bezogen war, begannen Menschen von den Londoner Gruppen dorthin zu gehen, entweder auf Besuch oder um »für immer zu bleiben«. Dr. Maurice Nicoll und Dr. Alsop, zwei sehr erfolgreiche Ärzte und führende Vertreter der Jung ’schen Psychologie, verkauften ihre Praxis und reisten mit Frau und Kindern weg. A. R. Orage verkaufte zur Bestürzung des literarischen London die Zeitschrift New Age. Mehrere unserer weiblichen Mitglieder, einschließlich Dr. Bell, auch eine Psychoanalytikerin, Miss Crowdy, Miss Gordon und Miss Merston, gingen mit derselben Entschlossenheit, es bis zum Ende durchzustehen." (eine "Prieuré" ist eine Abtei; Bennett (1976), der Quell-Link funktioniert nicht mehr)

Und das, obwohl Gurdjieff weder englisch noch französisch sprechen konnte !!
(So schreibt Bennett ([1973]/ 1976: 156) für die Zeit seines Besuchs 1923 in Fontainebleau: "Damals konnte Gurdjieff weder Englisch noch Fränzösisch sprechen, und ich hatte das Glück, mit ihm frei auf türkisch sprechen zu können, das er vollkommen beherrschte, ...) Wie kann ein Mensch, der sich und seine Lehre nur durch Übersetzer kommunizieren kann, eine so große Anziehungskraft ausüben ?

Eine Antwort Quspenskys, die wir bei Bennett finden, ist: "Ouspensky sagte, Gurdjieffs Kraft liege in dem Gebrauch des gesprochenen Wortes. Er nannte ihn den ausgezeichnetsten Redner, den er je gehört hatte, imstande, einer Zuhörerschaft, ob groß oder klein, ein Gefühl der Wirklichkeit und Unmittelbarkeit des Themas zu vermitteln, das er darlegte, auf eine Weise, daß selbst die talentiertesten berufsmäßigen Redner nicht mithalten konnten." (Bennett [1973]/ 1976: 171; und 296: "Gurdjieffs Sprachkraft war außerordentlich. Er konnte unsere Aufmerksamkeit stundenlang fesseln ...")

Bennetts Antwort lautete: "Einer der Gründe, warum Gurdjieff und seine Lebens-geschichte eine so starke Anziehungskraft für junge Menschen haben, ist das Gefühl, er habe einen Kanal geöffnet, um die Wasser des Lebens wieder fließen zu lassen. Es haben andere den Anspruch erhoben, die Meister der Weisheit gekannt zu haben. Gurdjieff jedoch brachte ihre Lehre und formte sie in eine für die moderne Welt brauchbare Lebensweise um, brauchbar nicht nur für einzelne, sondern für die gesamte Menschheitsfamilie." (Bennett [1973]/ 1976: 9; zur Formulierung "Meister der Weisheit" siehe hier; und hier ein Film)

Doch so stark die Gründe für seine Anziehungskraft und Begeisterungsfähigkeit auch waren, in dem Chateau Prieuré des Basses Loges bekam sie Risse - Bennett zitiert "aus den Aufzeichnungen von Fräulein Alexander": "Abgesehen von diesen Studien, war das planmäßige Programm der Themen, die an dem Institut gelehrt werden sollten, eingeschlafen, und auch jene, die auf der Suche nach Gesundung waren, hatten nicht die Heilverfahren gefunden, auf die sie hofften oder an die sie vielleicht glaubten. Die treibende Kraft des ersten Schocks hatte nachgelassen, vieles von Gurdjieffs Schulungsmethoden war schwer zu verstehen. Nur die Brennesseln konnte man greifen, und wieviel hatten die Zähigkeit, das zu tun ? Eines Tages jedoch bot uns Herr Gurdjieff an, eine Ausbildung aus einer ganzen Reihe von Gewerben und Handwerken auszuwählen. [...] Aber trotz unserer raschen Reaktion, nahm wenig, wenn überhaupt etwas von der Unterweisung feste Gestalt an, obwohl es bemerkenswert war, wie die bloße Aussicht darauf unsere nachlassenden Energien neu belebte. Wir lebten von der Erwartung. [...] Es war ein herrlicher Sommer. Herr Gurdjieff beschloß, einen Teil des Waldes für Bauarbeiten roden zu lassen. Es hieß, es sei eine dauerhafte zentrale Halle des Instituts geplant. [...] Doch wiederum wurde nie ein Stein des neuen Gebäudes gelegt. Statt dessen sprossen aus seinem unfruchtbaren Boden Mais und Bohnen auf." (Bennett [1973]/ 1976: 154f; insgesamt sind die Seiten bis S. 183 für die Zeit in der Prieuré interessant). Mit einem beinahe tödlichen Autounfall im Juli 1924 nahm die Lebensphase Prieuré ein jähes Ende. "Der große Plan, eine Weltorganisation zu errichten, um seine Ideen zu verbreiten, mußte aufgegeben werden; ..." (Bennett [1973]/ 1976: 169) Damit konnte er nicht mehr mit der ihm innewohnenden Energie das 1909 formulierte Ziel verfolgen, "»irgendein Mittel zu entdecken, um in den Menschen die Neigung zur Beeinflußbarkeit zu vernichten, die sie veranlaßt, leicht unter den Einfluß von Massenhypnose zu fallen«." (Bennett [1973]/ 1976: 173) Allerdings ist Bennett nicht der Kronzeuge für die Zeit in Frankreich, denn er war dort lediglich 33 Tage im Jahr 1923 (vgl. Moore 1991: 356). Die Zeit wurde für Gurdjieff noch schwerer, weil er neben den Folgen seines schweren Unfalls auch noch die Endphase der tödlichen Krankheiten seiner Mutter (chronisches Leberleiden) und seiner Frau (Krebs) miterleben musste.

Gurdjieff hatte von Beginn an in den Anthroposophen Mitbewerber um die Gunst der russischen Intelligentsia. Nach der Gründung eines deutschen (1902) und eines russischen Zirkel (1904) in Petersburg wurde im September 1913 die Russische Anthroposophische Gesellschaft gegründet - und zeitgleich das Zentrum der Bewegung im schweizerischen Dornach. In Paris waren sehr viele russische Flüchtlinge. "In den zwanziger Jahren waren in der Hauptstadt Frankreichs ungefähr 500 000 Russen. Im Jahre 1927 schickte Marie von Siver-Steiner die russische Eurythmistin Tatjana Kisseleva (1881-1970) von Dornach nach Paris, um dort die Eurythmiekunst und Geisteswissenschaft in russichen Emigrantenkreisen und im französischen Kulturleben zu vertreten. Frau Kisseleva organiserte den Eurythmieunterricht für französische und russische Kinder sowie auch für Erwachsene. [...] Im Jahre 1928 begann dank den Bemühungen russischer Anthroposophen sowie den Spenden einiger einzelner Personen die Monatszeitschrift »Antroposofija« herauszukommen. [...] Die Zeitschrift wurde mit der Schreibmaschine in einer Auflage von 125 Exemplaren vervielfältigt. [...] Die Zeitschrift bestand bis zum Jahre 1935. Die erste allgemeine Versammlung der russischen anthroposophischen Gruppe in Paris fand am 3. Dezember 1931 statt." (Fedjuschin 1988: 139, 141) Nur wenig später schloss Gurdjieff das Institut in der Prieuré - es war aber bereits seit 1924 schon nicht mehr das, als was es 1922 gestartet war.

Mit dem Schalk Mullah Nassr Eddin sagte Gurdjieff angesichts des drohenden Scheiterns seines Lebenswerkes am Ende des Anhanges "Die materielle Frage" in den Begegnungen:
"Wenn es mir jedoch aus irgendeinem Grunde nicht gelingen sollte, die Aufgabe, die ich auf mich genommen habe, zu erfüllen, werde ich mich gezwungen sehen, den illusorischen Charakter aller Ideen, die in dieser Erzählung dargelegt wurden, zuzugeben sowie die Überspanntheiten meiner Phantasie. [...] ... werde ich ein neues Leben beginnen, indem ich mich meiner Fähigkeiten zur ausschließlichen Befriedigung meines persönlichen Egoismus bediene. Schon schwebt meinem verrückten Gehirn ein Plan für meine künftigen Tätigkeiten vor. Ich sehe mich ein neues Institut mit vielen Zweigstellen organisieren, diesmal aber nicht mehr für die harmonische Entwicklung des Menschen, sondern für die Unterweisung unbekannter Mittel der Selbstbefriedigung ... Und ihr könnt mir glauben, ein solches Geschäft wird immer wie geschmiert gehen." (G2: 337f)

Diese Aussagen können als ein augenzwinkender Zynismus betrachtet werden, aber auch ein Zeichen von Ehrlichkeit angesichts seiner phantastischen Ideengebilde sein. Eine Zusammenfassung der Gurdjieffschen Gedankenwelt und Lehre findet sich in dem 1975 von Charles T. Tart herausgegebenen Buch Transpersonal Psychologies in dem Beitrag Gurdjieff von Kathleen Riordan (Speeth). Allerdings möchte ich hinsichtlich des dort noch zu findenden Hinweises, Gurdjieff hätte von der tibetanischen Regierung "wichtige Posten im Finanzwesen" übertragen bekommen und er sei ein "Tutor des Dalai Lama" gewesen, auf die entsprechenden Stellen auf der Webseite zur Herkunft des Enneagramm-Symboles verweisen.

Sehen Sie hier die am 24. Februar 2008 auf 3sat veröffentlichte Dokumentation Eine Reise zu unerreichbaren Orten (auf Youtube lautet der Titel "G.I. Gurdjieff & die Suche nach dem Sinn des Lebens").




P. D. Ouspensky (1878-1947)


Vermutlich lässt das bisher Gesagte den Eindruck entstehen, Gurdjieff sei die große Lichtgestalt gewesen. Doch waren Schüler von ihm ebenfalls Persönlichkeiten und nicht bloß "Schüler". Eine dieser Persönlichkeiten war Ouspensky. Der Ouspensky-Übersetzer Francois Grunwald, der auch Herausgeber des Tertium Organum war, kannte Ouspensky nicht persönlich und sagte über ihn: "Im Westen hatten jedoch wenige schaffende Menschen, die anfangs des 20. Jahrhunderts lebten, ein so tiefes und umfangreiches Wissen, auf den verschiedensten Gebieten - der Mathematik, Psychologie, Physiologie, Philosophie und Literatur - wie Ouspensky." (Grunwald (1972/3) in O1: 303) Ouspensky sagte unbescheiden über sein erstes Werk: "Ich habe dieses System der höheren Logik Tertium Organum benannt, weil es für uns der dritte Kanon - das dritte Instrument - des Denkens ist, nach jenen von Aristoteles und von Bacon. Das erste war das Organon, das zweite das Novum Organum. Doch das dritte existierte früher als das erste. Der Mensch, der Meister dieses Instruments, dieses Schlüssels, kann das Tor der Welt der Ursachen ohne Furcht öffnen." (O1: 231) Nebenbei war Ouspensky davon überzeugt, "daß, wenn es zum geschriebenen Wort komme, er Gurdjieffs Ideen sehr viel besser ausdrücken könne als dieser selbst." (Bennett [1973]/ 1976: 171) Gurdjieff wusste um Ouspenskys "Liebe zur Klarheit und zur einfachen Ausdrucksweise" (ebd.: 187), die im Gegensatz zu seiner allegorischen Darstellungsweise stand. Deshalb wollte er, dass Auf der Suche nach dem Wunderbaren einige Monate nach dem Beelzebub veröffentlicht wird. "Diesem Wunsch schenkte man nach seinem Tod keine Beachtung, und die beiden Bücher wurden zusammen herausgebracht." (ebd.: 187; Bennett hatte nach eigener Aussage "Beelzebubs Erzählungen vierzig- oder fünfzigmal gelesen und habe darüber tief nachgedacht, und jedesmal, wenn ich sie las, habe ich wieder neue Bedeutungstiefen entdeckt." (ebd.: 290))

In seinem Buch Ein neues Modell des Universums. Die Prinzipien der psychologischen Methode in ihrer Anwendung auf Probleme der Wissenschaft, Religion und Kunst sagt Ouspensky in der Einführung: "Ich habe mich so daran gewöhnt, »wissenschaftlich« zu denken, daß ich sogar Angst habe, mir vorzustellen, es könne irgend etwas anderes hinter der äußeren Oberfläche des Lebens geben." (O3: 8) Gleichzeitig spürte er deutlich, dass es etwas außerhalb der Wissenschaft gibt (so schrieb er im Tertium Organum auf S. 259: "In der zeitgenössischen theosophischen Literatur stechen zwei kleine Bücher hervor: Die Stimme der Stille, von H. P. Blavatsky und Licht auf dem Weg von Mabel Collins. Beide hatten viel von wirklichem mystischem Gefühl."). Angesichts des Mangels, den Ouspensky bei der Theosophie sah - "Diese schwache Seite bestand darin, daß sie, so wie sie war, keine Fortsetzung haben konnte. Jedoch öffnete sie mir Tore in eine neue und größere Welt." (Ouspensky 1935 zitiert von Grunwald in O1: 305) -, war Gurdjieff für ihn derjenige, der ihm und anderen am besten diese neue Welt öffnen konnte. Allerdings währte diese Überzeugung nur wenige Jahre: "In regard to my relations with G. I saw clearly at that time that I had been mistaken about many things that I had ascribed to G. and that by staying with him now I should not be going in the same direction I went at the beginning. And I thought that all the members of our small group, with very few exceptions, were in the same or in a similar situation. This was a very strange »observation« but it was absolutely a right one. I had nothing to say against G.'s methods except that they did not suit me. [...] The decision to leave G.'s work and leave him exacted from me a great inner struggle. I had built very much upon it and it was difficult for me now to reconstruct everything from the beginning. But there was nothing else to do. Of course, all that I had learned during those three years I retained. But a whole year passed by while I was going into all this and until I found it possible to continue to work in the same direction as G. but independently. I went into a seperate house and again began work abandoned in St. Petersburg, on my book which afterwards appeared under the title A New Model of the Universe. [...] It was very difficult for me to reject the idea of working with G. [...] G. with his four companions had gone to Tiflis. In the spring we learned that he was continuing work in Tiflis with new people and in a new direction, basing it principally on art, that is, on music, dances, and rhythmic exercises." (O2a: 374f; zu Gurdjieffs Musik und den Tänzen, die mit der Arbeit in Tiflis wichtig wurden, siehe auch die Anmerkungen bei Moore 1991: 349-353, 361f)

Für das Psychologie-Verständnis von Gurdjieff/Ouspensky und das Verständnis der Ansicht des Menschen als Maschine mit sieben Funktionen ist der Erste Ouspensky-Vortrag in dem Büchlein Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen empfehlenswert (Vorträge, die Ouspensky seit 1922 hielt und vor der Veröffentlichung 1951 mehrmals korrigierte).

Am Ende seines Buches Ein neues Modell des Universums hebt Ouspensky die Bedeutung der Endokrinologie für die Psychologie hervor: "Ein neuer Zweig der wissenschaftlichen Physiologie, der sich bereits zu einer selbständigen Wissenschaft entwickelt und ein vollkommen neues Licht auf andere Wissenschaften wirft, besonders auf die Psychologie, nämlich die Endokrinologie oder die Erforschung der Drüsen der inneren Sekretionen, verspricht sehr viel bezüglich der Erforschung und Feststellung der Eigenschaften und Ursachen der verschiedenen Funktionen des Menschen, unter ihnen die Geschlechtsfunktionen und ihre Beziehung zu anderen Funktionen." (O3: 514)

Bennett sagte über Ouspensky: "Was mich anbelangt, so ist dieses Material das Ouspensky für seine eigene Lehre in den Jahren von 1922 bis 1940 verwendete, als er seine Gruppen in London hatte, die wertvollste Sammlung von Ideen und Methoden, der ich in 50 Jahren des Suchens begegnet bin." (Bennett [1973]/ 1976: 127)

Zum Abschluss dieses Kapitels zunächst ein paar anschauliche Worte zur Tragik in der Beziehung zwischen Gurdjieff und seinem Meister-Schüler Ouspensky, der aus unbekannten Gründen im Jahr 1924 den Kontakt zu Gurdjieff abbrach: "Ouspensky war bis zum Ende seines Lebens Gurdjieff ergeben. Er war überzeugt, daß Gurdjieff kein gewöhnlicher Mensch war. Er wußte, daß allein Gurdjieff ihm Hoffnung gemacht hatte, einen Ausweg aus dem Zustand der Mechanität und Zustand der Verwirrung zu finden, in den er die ganze Welt eingetaucht sah. Er hatte keinen Zweifel, daß Gurdjieff das Geheimnis einer Methode besaß, die wirken würde, und er hatte sich entschlossen, sein Leben ihrer Verbreitung zu widmen. [...] Doch 1924 kam die große Überraschung, als Ouspensky uns mitteilte, daß er jede Verbindung zu Gurdjieff lösen werde, und uns sagte, daß wir die Wahl treffen müßten, entweder zu Gurdjieff zurückzugehen und jede Verbindung zu ihm zu verlieren oder bei ihm zu bleiben und jeden Kontakt mit Gurdjieff abzubrechen. [...] Zwischen 1924 und 1947, das heißt, 23 Jahre lang begegneten sich Gurdjieff und Ouspensky nicht wieder, und Ouspensky erlaubte nicht, daß der Name »Gurdjieff« in seiner Gegenwart erwähnt wurde. Gurdjieff sprach seinerseits stets herabsetzend von Ouspensky, den er sogar anklagte, die Arbeit dadurch zu sabotieren, daß er die Aufgabe nicht ausführte, das System in einer Form niederzuschreiben, die für alle verständlich wäre, und es daher für Gurdjieff notwendig machte, die ungewohnte Rolle des Schriftstellers zu übernehmen. Einer der engsten Freunde und Schüler Ouspenskys erzählte mir, wie er einen Abend bei Ouspensky verbrachte, der zu jener Zeit viel zu viel trank. Dies war in den späten vierziger Jahren, nicht lange vor Ouspenskys letzter Krankheit. Als er bereits betrunken war, war Ouspensky zusammengebrochen und hatte weinend gesagt: »Versteht er denn nicht, wie sehr ich ihn liebe ? Warum läßt er mich nicht zu sich zurückkehren ? Er weiß, daß ich ihn brauche, und ich weiß, daß er mich braucht.« Dieser Verzweiflungsschrei, von dem ich weiß, daß er echt war, zeigt die Art, in der Gurdjieff die Dinge für jene, von denen er am meisten erwartete, fast unmöglich machen konnte." (Bennett [1973]/ 1976: 249f)

Und nun noch ein paar Worte von Bennett über seine Beziehung zu Gurdjieff: "Mein ganzes Leben war durch seine Ideen und seine Lehre verändert worden. Seit 1932 war ich damit beschäftigt gewesen, mit Gruppen zu arbeiten, zuerst unter Ouspenskys Leitung und später unter meiner eigenen." (11) "Ich weiß nicht, wie ich meine eigene Stellung einordnen soll. Bei unserer ersten Begegnung im Jahr 1920 sah ich ihn fast auf der Stelle als meinen Lehrer an. Als ich 1923 zur Prieuré ging, machte er deutlich, daß er mich als Schüler akzeptierte, und ich war überzeugt, daß mein Leben von da an mit ihm verbunden war. Ich rechnete damit, daß ich zur Prieuré zurückkehren würde, um mit ihm zu arbeiten und schließlich zu einem seiner Helfer zu werden. Doch nachdem ich die Prieuré im August 1923 verlassen hatte, sah ich Gurdjieff erst wieder, als ich im August 1948, genau 25 Jahre später, nach Paris ging. Wie es zustande kam, daß ich den Kontakt verlor, wieso ich nicht verstand, was vor sich ging, ist selbst heute schwer zu erklären. Als ich 1948 zu Gurdjieff zurückkehrte, sagte ich ihm, ich empfände, daß ich in den 25 Jahren, die ich von ihm getrennt gewesen war, den besten Teil meines Lebens verloren hätte. Er sagte: »Nein, es war notwendig. Ohne dies wären Sie nicht fähig, das zu empfangen, was ich Ihnen jetzt geben kann. Sie konnten nicht bei mir bleiben. Jetzt werden Sie bleiben können.« Und von der Zeit an blieb ich bei ihm bis zum Ende seines Lebens. Ich fühlte, wie es etwas Außerordentliches war, daß ich nach 25 Jahren fähig war zurückzukehren. Und in gewisser Hinsicht führte er seine Lehre fort, fast wie er sie gelassen hatte, als ich 1923 das letztemal mit ihm sprach, damals auf türkisch. Die Erfahrung, die Erfolge und Fehlschläge meines Lebens während der dazwischenliegenden Zeit machten die Situation völlig anders: Trotzdem fühlte ich mich noch immer wie ein Kind, das gerade zu lernen anfing, worum es in der Welt eigentlich geht. Ich war einer von denen gewesen, die die Erfahrung hatten, fortgetrieben zu sein, und nicht verstehen konnten, warum oder sogar wie ihnen geschah." (Bennett [1973]/ 1976: 11, 251f)

Laut Ouspensky gibt es zwei Systeme der Psychologie. Das eine ist die moderne wissenschaftliche Psychologie, die versucht, herauszufinden, wie der Mensch funktioniert bzw. wie er ist oder zu sein scheint. Das andere ist eine Psychologie, die darauf schaut, was der Mensch werden kann, also "das Studium der Grundsätze, der Gesetze und Tatsachen, die sich auf die mögliche Entwicklung des Menschen beziehen." (O4: 11) Das war auch die Absicht Gurdjieffs.

Interessierte Leser/innen mit viel Zeit können sich in die 1.766 umfassenden Psychological Commentaries on the Teaching of Gurdjieff and Ouspensky von Maurice Nicoll vertiefen.


Stand dieses Kapitels ist 2011-10-16.