Das Enneagramm – Mythos und Wahrheit


Zwischen Mythos und Wahrheit des Enneagramms unterscheiden zu wollen, wäre unnötig, wenn es sich hierbei um eine hobbyähnliche Liebelei handeln würde. Die Situation ist aber ernster.

Da das Enneagramm seit mindestens 2011 bis 2013 Lehrgegenstand im Weiterbildungsangebot einer deutschen nichtstaatlichen Hochschule war (Frankfurt School of Finance and Management; in 2013 war es Bestandteil in drei Kursen; in 2014 wurde das Wort "Enneagramm" aus den Seminarbeschreibungen entfernt), es seit einigen Jahren Teil des Lehrangebotes der Württembergischen Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie ist, es in der sozialen Beratungsarbeit eines Jugendamtes bereits ausprobiert wurde (Landkreis Harburg), sein Nutzen für Mediation und Verhandlung beschrieben wurde (Pfab 2008 und 2010), es sogar vom CIA zur Analyse von Führungs- und Managementverhalten benutzt wurde (Goldberg [1996]/ 1998: 10, 208f) und in einem deutschen Verwaltungshandbuch für Führungskräfte empfohlen wird (Draf ⁵1999: 287-289), es seit den 1990ern vermehrt in US-Unternehmen eingesetzt wird und deshalb vermutlich demnächst auch in deutschen Unternehmen eingesetzt werden wird (wobei 2003/4 lediglich 8 von 41 Unternehmen [14 DAX- und 27 MDAX-Unternehmen] von einem Business Enneagramm "schon gehört" hatten; vgl. S. 3f), besteht ein Aufklärungsbedarf für Entscheider.

Eine gewisse Brisanz erhält das Thema durch die Akkreditierung der Bankakademie. Das ist quasi der Ritterschlag für eine nichtstaatliche Hochschule. Diese Akkreditierung bescheinigt u. a., dass die entsprechende Hochschule "in der Lage ist, Leistungen in Lehre und Forschung zu erbringen, die anerkannten wissenschaftlichen Maßstäben entsprechen. Vornehmliches Ziel der Institutionellen Akkreditierung ist damit sowohl die Sicherung der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Hochschuleinrichtung ..." (Wissenschaftsrat) Enneagrammer können nun sagen: "Schaut her, wir unterrichten das Enneagramm an einer vom Wissenschaftsrat akkreditierten Hochschule." An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob der Wissenschaftsrat ein Enneagramm-Seminar für akkreditierungswürdig hält. Das Problem ist, dass der Wissenschaftsrat sich nicht mit Programm-Akkreditierung beschäftigt, sondern eine institutionelle Akkreditierung durchführt, die eine Programmakkreditierung voraussetzt: "Das institutionelle Akkreditierungsverfahren berücksichtigt mehr und andere Kriterien als derzeit von einer Programm- oder Systemakkreditierung erfasst werden. Der Wissenschaftsrat geht davon aus, dass die Studienprogramme in der Regel bereits akkreditiert vorliegen, wenn die Institutionelle Akkreditierung beginnt. [...] Insbesondere werden die bereits vorliegenden Studiengangsakkreditierungen im Rahmen der Institutionellen Akkreditierung zur Kenntnis genommen und in dem Verfahren entsprechend berücksichtigt. Im Rahmen der Institutionellen Akkreditierung befasst sich der Wissenschaftsrat daher nur mit einer Plausibilitätsprüfung der wissenschaftlichen Qualität der Studiengänge." (S. 9) Die Entscheidungsverantwortlichkeit hinsichtlich der Akkreditierungswürdigkeit einzelner Veranstaltungen an der entsprechenden Hochschule liegt also bei den Programmakkreditierern. Doch selbst diese tragen keine Verantwortung, wenn die angebotenen Seminare nicht dem Erwerb von Credit-Points dienen, die zu einem Hochschulabschluss führen, sondern zum Profit-Center einer Hochschule gehören, welches Seminarangebote für Externe liefert.

Allerdings wäre es seltsam, wenn eine Hochschule lediglich für die "offiziellen" Seminare dem wissenschaftlichen Anspruch nachkommt, der mit einer Akkreditierung verbunden ist, jedoch für das als Profit-Center organisierte Veranstaltungswesen die Wissenschaftlichkeit eine untergeordnete Bedeutung hat. Im "Fragenkatalog zur Erstellung eines Selbstberichts im Rahmen des Akkreditierungsverfahrens des Wissenschaftsrates" stehen im Frageblock 3, der sich dem "Leistungsbereich Lehre und Studium sowie Serviceleistungen für Studierende und Weiterbildung" widmet u. a. die Fragen 3.18 ("In welchem Umfang und in welchen Bereichen sind Weiterbildungsangebote vorgesehen ?") und 3.19 ("Welche Rückbezüge auf grundständige Lehre und Forschung haben die Weiterbildungsangebote ?"). (S. 40)

Zweitens erhält das Thema Enneagramm als Lehrgegenstand an Hochschulen seine Brisanz durch die für alle Hochschul-Studiengänge verpflichtenden Qualifikationsziele - derer gibt es vier und eines heißt "Persönlichkeitsentwicklung" (siehe "Qualifikationsziele des Studiengangkonzeptes". (Stand 2013)

Die folgenden Webseiten wollen Akkreditierungsverantwortlichen sowie Programm-Verantwortlichen von Hochschulen und schließlich Personalverantwortlichen in Unternehmen, Verwaltungen und Organisationen Informationen liefern, die sie in dieser Form nirgends im Internet finden.



In Deutschland gibt es drei wesentliche Organisationen
von Enneagrammern: seit dem Winter 1989/90 den Ökumenischen Arbeitskreis Enneagramm (ÖAE), seit 1997 den Enneagrammverein in der Mündlichen Tradition nach Helen Palmer e.V. (EMT) und seit 2007 das aus einer Weiterbildung hervorgegangene Deutsche Enneagramm Zentrum (DEZ).

Von Mitte 2003 bis Mitte 2005, erneut ein paar Monate im Jahr 2010 und mit wissenschaftlicher Neugier von März bis Oktober 2011 habe ich mich mehr und weniger intensiv mit dem Enneagramm beschäftigt (Literatur gelesen, drei einwöchige Seminare besucht) und Kontakt zu verschiedenen Vertretern der deutschen Enneagramm-Szene gehabt. Alles nette Menschen. Doch zunehmend entstand bei mir der Eindruck, dass es einen großen Unterschied zwischen Mythos und Wahrheit des Enneagramms gibt. Dadurch entstand in mir der Impuls, Ihnen klarstellende Informationen anzubieten.



Das Enneagramm ist eine Anleitung zur Selbsterkenntnis. Es wird heutzutage vorwiegend als Persönlichkeitsmodell betrachtet. Es ist aber nicht nur eine Anleitung zur Selbsterkenntnis, sondern beinhaltet auch ein Heilsversprechen: "Der Grund für die Beschäftigung mit dem Enneagramm der Persönlichkeit ist nicht die Erlangung der Fähigkeit, die Charakterzüge anderer für bestimmte vordergründige Zwecke zu entdecken, sondern Ihr eigenes Leid zu verringern. Zudem können Sie Ihre Mitmenschen sozusagen von innen sehen. Dieses Verständnis wird dazu beitragen, daß Arbeitsteams effizienter werden, Romanzen sich mit Magie füllen und Familien wieder zusammenfinden." (Palmer [1988]/ 1991: 30)

Weil dieses Modell sowohl einen psychologischen als auch einen spirituellen Hintergrund hat, wird es von den Enneagramm-Vertretern gern als das beste aller Persönlichkeitsmodelle betrachtet. Diese Einschätzung des Modells paart sich gelegentlich mit der Selbsteinschätzung ein/e besonders guter/gute Menschenkenner/in zu sein. Bartels stellte in der Einführung seiner Dissertation treffend fest: "Während es von manchen als Vollendung der Persönlichkeitspsychologie gefeiert wird, wird von anderen die wissenschaftliche Validität des Modells grundsätzlich bestritten." (Bartels 2005: 7)

Eine Brücke zur Kompetenzforschung ergibt sich durch diese Ansicht: "Das Enneagramm ist Teil einer Lehrtradition, die persönliche Themen als Lehrer oder Wegweiser für latent vorhandene Fähigkeiten betrachtet, welche sich während der Entwicklung eines höheren Bewußtseins entfalten werden." (Palmer [1988]/ 1991: 23)



In dem 2011 erschienenen Buch Enneagramm für DUMMIES sagt die Autorin treffend: "Mythenbildung funktioniert, indem jemand etwas zum Beispiel zwei anderen erzählt. Die erzählen es ihrerseits weiter. Wir Menschen neigen dazu, dass wir etwas glauben, wenn es nur oft genug gesagt wird. Denn der und der und so viele andere sagen es auch. Dasselbe gilt für Dinge, die schriftlich aufgezeichnet wurden. [...] Wir Menschen geben einander Wahrheiten weiter. Aber auf dem gleichen Weg geben wir auch Unwahrheiten weiter. Sie entwickeln schnell ein Eigenleben." (van Stijn [2006]/ 2011: 250)

Die Frage von Mythos und Wahrheit entscheidet die Autorin ganz pragmatisch: "Das Enneagramm funktioniert für mich, und das ist die Hauptsache." (ebd.: 251)

Das Buch Enneagramm für DUMMIES hat keine Anmerkungen und kein Literaturverzeichnis - seltsam für ein Buch, das auf der Buchrückseite mit dem Spruch "Mach dich schlau" wirbt. Für diejenigen unter Ihnen, die es genauer wissen wollen, sind die folgenden Kapitel geschrieben: 


Zur Wortherkunft des Enneagramm

Zur Symbolherkunft des Enneagramm

Zur Wissenschaftlichkeit des Enneagramm

Literaturverzeichnis

Am 20.05.2023 habe ich (hoffentlich vollständig) die Links aktualisiert; der Text ist unverändert vom Oktober 2011.